SPRACHE FÜR JEDERMANN

Viele Patienten verlassen die Ordination, ohne die Diagnose verstanden zu haben. Mediziner haben häufig Schwierigkeiten, sich in medizinischen Dingen für den Patienten verständlich auszudrücken.
 

© Springer Wien

Der Drang zur Mitteilsamkeit war bescheiden. Nach einer aufwendigen Schilddrüsenuntersuchung fand sich die Patientin allein im Vorraum der Fachordination und fragte schüchtern, ob sich bei der Kontrolluntersuchung Auffälligkeiten ergeben hätten. Die Antwort des untersuchenden Arztes zeugte von wenig Einfühlungsvermögen: „Steht alles im Befund“. Der überweisende Allgemeinmediziner werde alles Notwendige erklären. Die Patientin war entlassen.

Die Erinnerung der Patientin ist keine gute: „Ich bin mir selten so dumm vorgekommen wie in dieser Situation.“ Außerdem ärgere es, noch einmal den Hausarzt aufsuchen zu müssen, was das Zeitbudget einer arbeitenden Mutter von zwei Kindern unnötig leere. Von allgemeinen Gesundheitskosten für zwei Arztbesuche, wo einer genügen würde, wolle sie nicht reden.

Ähnliches Symptom, gleiche Diagnose. Eine Untersuchung der Uniklinik Heidelberg führt den Fall einer Patientin an, die mit den üblichen Erkältungswehwehchen zum Hausarzt kam. Husten, Heiserkeit, Halsschmerzen.

Aus dem Mund des ernst dreinblickenden Doktors aber klang die Diagnose deprimierend: Er redete von "bronchialer Reizung" und "merklichem Tussis", weswegen ein Antitussivum überlegenswert sei. Mit Rezept und Krankschreibung verließ die Patientin die Praxis - und fühlte sich gleich schlechter. Gut gemeint ist auch daneben. So drücken sich täglich Tausende Patienten verwirrt durch die Tür der Arztpraxen, erkrankt an einem exotisch klingenden Erysipel (Wundrose) oder an einem peinlich klingenden Herpes Zoster, bei dem es sich um eine lästige Gürtelrose handelt. Manch Mediziner leidet nicht nur unter akuter Fachsimpelei, sondern auch unter insuffizientem Fragen, Zuhören und Einfühlen.

DER RICHTIGE AUSDRUCK ZÄHLT

Arztsein ist ein sprechender Beruf. „Welche Kenntnisse, Fähigkeiten oder speziellen Qualitäten und Begabungen ein Arzt auch haben mag, erst im Gespräch mit seinem Patienten erhalten sie Gewicht“, analysiert Linus S. Geisler, emeritierter Chefarzt der Medizinischen Klinik am St. Barbara-Hospital Gladbeck und Autor des Standardwerks „Arzt und Patient – Begegnung im Gespräch“. Sein Buch ist zwar nahezu 20 Jahre alt – die Verständigungsschwierigkeiten in den Ordinationen und Spitälern sind immer noch dieselben. „Erst durch die kommunikativen Gaben wird das ärztliche Wissen in die klinische Tätigkeit umsetzbar“, schreibt Geisler. Ein niedergelassener Arzt verbringe 60 bis 80 Prozent, ein Klinikarzt 40 bis 50 Prozent seiner täglichen Arbeitszeit im Gespräch mit seinen Patienten. Die Zahl der Patientengespräche kann sich so, laut Geisler, im Laufe eines ärztlichen Berufslebens auf bis zu 200.000 summieren. Analysiert man die Realität der Arzt-Patienten-Kommunikation, könne man „nicht selten den Eindruck gewinnen, dass zwei Fremde in jeweils fremder Sprache miteinander reden“, so der Arzt und Autor. Seine Analyse aus tausenden von Arztgesprächen und unzähligen Patientenbefragungen:

  • Die Hälfte der Beschwerden des Patienten kommt erst gar nicht zur Sprache
  • Die Hälfte der psychosozialen Probleme und psychischen Störungen des Patienten werden nicht erkannt
  • Arzt und Patient stimmen in mehr als der Hälfte der Fälle nicht über das hauptsächliche Gesundheitsproblem des Patienten überein.
  • Arzt und Patient sprechen miteinander auf verschiedenen Ebenen.
     

STUDIUM BAUT AUF

Die Forderung nach „sprechender Medizin“ ist alt. Schon Sokrates sprach von „heilenden Worten“. Aber das Medizinstudium erzieht zu sogenannter "wissenschaftlicher Objektivität". Es ist somatisch-, fakten- und leistungsorientiert, ohne kommunikative Fähigkeiten zu fördern. Aber wie informiert man Angehörige über den Tod eines Patienten? Wie kann depressiven und suizidgefährdeten Menschen geholfen werden? Und wie erreicht man Patienten, die ihre Beschwerden nicht ernst nehmen? Die Uniklinik im deutschen Heidelberg geht bei diesen Fragen seit Jahrzehnten einen eigenen Weg. Dort werden Medizinstudenten mit polternden Handwerkern und hysterischen Hausfrauen konfrontiert, allesamt Schauspieler, die die angehenden Ärzte als „standardisierte Patienten“ mit diversen Symptomen und Charakteren konfrontieren. Das sogenannte Kommunikations- und Interaktionstraining für Medizinstudenten (Medi-KIT) ist zum verpflichtenden Teil des Heidelberger Medizinstudiums geworden. Andere deutsche Universitäten folgten dem Heidelberger Vorbild: Von Bauchschmerzen über Herzrasen bis Schlaflosigkeit, von schüchtern bis aggressiv – die Studenten lernen, sich auf verschiedene Gesprächssituationen einzulassen, einfühlsam und verständlich mit ihren „Patienten“ zu sprechen sowie für die Anamnese wichtige Informationen zu erhalten. Die Gespräche werden aufgezeichnet; per Videoaufnahme können die Teilnehmenden anschließend ihr Kommunikationsverhalten beobachten und dadurch verbessern.
 

So patientenfreundlich die Programme geplant sind – Studenten reagieren auf die neuen Lehrinhalte nicht nur mit Begeisterung. Nicht repräsentative Umfragen der Tageszeitung „Die Welt“ unter Heidelberger Studenten zeigen, dass der kommunikative Anteil im Studium als überrepräsentiert empfunden wird. Und damit stehen die Jungen nicht allein. Bemühungen um das Verständnis seitens des Patienten wird auch von erfahrenen Arztkollegen nicht selten als „Getue“ empfunden. Denn Gesprächszeit ist in der Realität eine Frage des Geldes. Ärzte und Kliniken stehen unter einem enormen Kostendruck, weil ihre Leistungen, von Ausnahmen abgesehen, pauschal abgegolten werden. Ausführliche Gespräche kosten Zeit - und bringen kein Geld. Das System der Fallpauschalen sieht keine Honorierung spezieller Kommunikationszeiten vor.

Und es gibt noch einen ganz einfachen Grund, warum Kommunikation in Kliniken und Ordinationen oft scheitert: Moderne Krankenhäuser verfügen oft über keinen Gesprächsraum. Und in vielen Ordinationen unterbrechen Sprechstundenhilfe oder Telefon. Mangelnde Diskretion und unerbetene Pausen zählen zu den größten Störfaktoren. Aber nicht immer muss der Arzt alles allein machen. Effiziente Kommunikation könnte auch durch Technik unterstützt werden, wie ein Forschungsprojekt am Uniklinikum Essen vom Sommer 2018 zeigt: Dabei fühlten sich Patienten, die vor dem Arztgespräch in Videoclips Informationen zu ihrer Behandlung erhielten, hinterher viel besser aufgeklärt.

Für Linus Geisler bleiben Achtsamkeit und die Bereitschaft zum Zuhören die Schlüsselfaktoren erfolgreicher Arzt- und Patienten-Gespräche. Das „Totschlagargument“ der mangelnden Zeit ziehe nicht, schreibt er: „Ein Patient, der die Diagnose seines Arztes nicht versteht, kostet hundert Mal mehr Zeit.“